Neue EU-Regeln fürs Internet :
„Ein großer Aufschlag war längst überfällig“

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Nadine Schön ist stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag und zuständig unter anderem für „Digitale Agenda“.
Brüssel will die Macht der Tech-Konzerne begrenzen. Digitalexpertin Nadine Schön, stellvertretende Chefin der Unionsfraktion im Bundestag, findet das richtig – und sagt, was die EU von deutschen Gesetzen lernen kann.
Frau Schön, die EU-Kommission hat kurz vor Weihnachten eine sehr umfassende Regulierung der Internetplattformen vorgelegt in Form des Digital Services Acts (DSA) und des Digital Markets Acts (DMA). Es geht um Inhalte, Marktmacht, Aufsichtsstrukturen, Transparenz – eine regelrechte Neuordnung des Netzes, wie sie so bislang keine westliche Demokratie anstrebt. Was halten Sie davon?

Ich finde das gut, ein großer Aufschlag war längst überfällig. Die Markt- und Machtkonzentration und vor allem die besonderen Regeln, die den Plattform-Ökonomien intrinsisch sind mit ihren Netzwerk-Effekten, der Anhäufung von Daten und den Auswirkungen auf die Weltmärkte – darauf eine europäische Antwort zu geben ist dringend geboten.

Und wie sieht das Ihre Partei?

Nach meiner Wahrnehmung wurden DSA und DMA in Deutschland überwiegend begrüßt. An dem Tag, an dem das veröffentlicht wurde, hatten wir ein Fachgespräch der Unionsfraktion, in dem das auch der Tenor war. Natürlich kommt es am Ende darauf an, wie die Regeln genau ausgestaltet werden.

Was im DSA, der ja allein aus 75 Artikeln besteht, und im DMA ist Ihnen besonders wichtig?

Wichtig ist mir, dass es überhaupt eine europäische Antwort gibt. Zum ersten Mal wird mit dem DMA definiert, was Gatekeeper sind, und es werden Auflagen gemacht, schon bevor sich ihre Wettbewerbssituation verfestigt hat. Darauf setze ich große Hoffnungen. Wir haben nationale Vorbilder, für den DMA die aktuelle GWB-Novelle und für den DSA die NetzDG-Gesetzgebung, mit der wir schon viel Erfahrung gesammelt haben und die wir sicherlich einbringen können, wenn es darum geht, Filterblasen, Desinformationskampagnen oder Manipulations-Tendenzen einzudämmen.

In Deutschland haben Sie vor wenigen Tagen die GWB-Novelle auf den Weg gebracht. Gibt es da einen Konflikt, hätten Sie diese enger mit dem abstimmen müssen, was nun aus Brüssel gekommen ist?

Na ja, DSA und DMA werden nun erst mal beraten, und es wird noch dauern, bis sie in Kraft treten werden – und dann sind sie ja unmittelbar geltendes Recht. Deshalb ist es sehr wichtig, dass das inhaltlich gut aufeinander abgestimmt ist. Aber zu sagen, wir warten jetzt noch zwei Jahre, bis das Ganze in Brüssel durch ist, das halte ich für falsch, im Gegenteil: Wir sind dafür, dass aus diesen nationalen Gesetzgebungen für die künftige Regelung auf europäischer Ebene gelernt wird. Ich finde es charmant, dass wir in Deutschland jetzt ungefähr zwei Jahre Zeit haben, um unsere Regulierung auszutesten und daraus Rückschlüsse zu ziehen. Das entspricht mehr der Dynamik in der digitalen Welt. Übrigens haben wir auch jetzt schon voneinander gelernt.

Wo?

Im DMA arbeitet man sehr stark mit Regelbeispielen, während wir mit der GWB-Novelle eher eine abstrakt-generelle Regelung machen. Wir haben nun im Laufe unseres Gesetzgebungsverfahrens auch in der GWB-Novelle Regelbeispiele hinzugefügt, damit klarer ist, wovon wir überhaupt sprechen und welche Szenarien wir vor Augen haben.

Nennen Sie einmal Beispiele.

Das betrifft etwa die Verbotstatbestände des Paragraphen 19a. Hier sind wir zunächst mit einer abstrakt ausformulierten Rechtsnorm herangegangen, um eine zukunftsweisende und technologieoffene Regulierung von Gatekeeper-Plattformen sicherzustellen. Um GWB und DMA anzugleichen, haben wir dann konkrete Verhaltensweisen ergänzt, die das Bundeskartellamt untersagen kann, weil sie mit Selbstbevorzugung und unfairen Bündelungspraktiken einhergehen. Zum Beispiel, falls eigene Angebote im Ranking von Suchergebnissen bevorzugt werden oder Software auf einem Smartphone vorinstalliert ist. Auf diese Weise schaffen wir rechtssichere und zugleich zukunftsfeste Regelungen. Zudem haben wir einen neuen Tatbestand hinzugefügt, der Gatekeepern verbietet, die Behandlung von Angeboten eines Unternehmens von unverhältnismäßigen Forderungen abhängig zu machen, also beispielsweise, wenn ein Log-in bei einem Angebot nur mit Mailadresse des Gatekeepers möglich ist.

Und was kann der DMA aus Deutschland lernen?

Wir empfehlen den Kollegen, neben den Regelbeispielen auch abstrakt-generelle Regelungen einzubeziehen, weil sie so dynamischer auf neue Entwicklungen reagieren können. Gleichzeitig wollen wir auch auf europäischer Ebene dafür sorgen, dass es effektive Kontrollmechanismen und schlanke Rechtswege gibt. Im parlamentarischen Verfahren haben wir uns als Union sehr für die Verkürzung des Rechtsweges in Streitfällen eingesetzt und beim BGH alleinige Zuständigkeit geschaffen, denn erfahrungsgemäß waren bisherige kartellrechtliche Verfahren gegen Gatekeeper komplex und langwierig – sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene.

Formulieren Sie einmal bitte eine Passage, die da hinein gehört aus Ihrer Sicht.

Ich möchte jetzt nicht mit einem Text vorweg greifen, das alles muss ja im Gesamtzusammenhang diskutiert werden. Klar ist aber: Wir sind hier im engen Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen der EVP-Fraktion in Brüssel und werden uns in die Beratungen einbringen. Das machen wir seit einiger Zeit intensiv, so auch bei der europäischen KI-Strategie, für die wir eine Positionierung des Deutschen Bundestags erarbeitet haben. Auch auf parlamentarischer Ebene muss deutsche und europäische Politik enger zusammenarbeiten.

Wenn jedes EU-Land versucht, noch viele eigene Vorstellungen unterzubringen, gerät dann die eigentlich für einen einheitlichen digitalen Binnenmarkt erwünschte Harmonisierung in Gefahr?

Nein, die wird am Ende kommen. Denn im Falle des DSA und des DMA handelt es sich um Verordnungen und nicht um Richtlinien, die erst in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Wir brauchen einen einheitlichen Binnenmarkt, deshalb begrüßen wir die Regelung so. Und es gibt Themen, da haben wir bewusst mit Blick auf den DMA auf eine Regulierung im GWB verzichtet. Etwa bei den sogenannten Killerakquisitionen, also Übernahmen von kleinen, wachstumsstarken und innovativen Unternehmen durch die großen Plattformen. Wir haben in der GWB-Novelle bewusst auf ein Verbot im Rahmen des Paragraphen 19a verzichtet, damit deutsche Start-ups gegenüber Unternehmen aus anderen europäischen Ländern keinen Wettbewerbsnachteil und weiter Exit-Optionen haben. Gleichwohl wissen wir, dass es ebendiese Start-ups sind, die von unfairem Verhalten von Gatekeepern besonders betroffen sind – hierauf muss der DMA aufbauen und die aktuell diskutierte Anmeldepflicht für Unternehmenskäufe für Europa ambitioniert ausgestalten.

Ein Aspekt, der sich aus den EU-Vorschlägen ergibt, liefe auf das Ende des App-Stores in seiner bisherigen Form hinaus mit dem dazugehörigen Gebührenmodell. Eine gute Idee?

Der App-Store ist einer der Gatekeeper, die dazu führen, dass es wenige Unternehmen gibt, die für andere den Zugang zu den Endkunden regulieren. Da für mehr Öffnung zu sorgen ist auf jeden Fall eine gute Idee. Eine andere gute Idee ergibt sich aus der Diskussion über GetYourGuide aus dem vergangenen Jahr und der Frage, welche Daten Unternehmen haben, die Werbung schalten bei einem Gatekeeper, ob der Gatekeeper selbst von der Auswertung dieser Daten profitiert und die Anzeigen schaltenden Unternehmen Zugang dazu haben. Im Ansatz der EU ist vorgesehen, dass die Gatekeeper diese Daten teilen und damit nicht konkurrierende, eigene Geschäftsmodelle aufbauen – das finde ich eine sehr sinnvolle Regelung. Wir brauchen insgesamt ein Ökosystem der Offenheit, offene Standards, offene Schnittstellen, mehr Open Source.

Wie sollen denn die großen Internetunternehmen mit Inhalten umgehen? Als Twitter oder Facebook die Accounts von Donald Trump sperrten, sorgte das für ziemlich viel Wirbel – war das eine richtige Entscheidung?

Das sind schon weitgehende Schritte. Deshalb fordert der DSA zu Recht ein, dass Transparenz entsteht darüber, wie die Unternehmen mit Desinformationskampagnen oder „Harmful Content“ umgehen. Was sich hier zeigt, ist das Spannungsfeld zwischen Meinungsfreiheit, die wir schützen wollen, und der Erkenntnis, dass auch durch die Plattformen Desinformationen und Fake News erst ihren Weg finden. Im NetzDG haben wir versucht, das mit sogenannter regulierter Ko-Regulierung zu lösen.

Sagen Sie bitte noch mal, was hinter dem Begriff steckt.

Es geht darum, nicht den Plattformen allein zu überlassen, diese Entscheidungen zu fällen. Sondern gerade in diesen kritischen Situationen – und beim amerikanischen Präsidenten handelt es sich um eine solche – ein pluralistisch besetztes Gremium eine Empfehlung geben oder Entscheidung fällen zu lassen. Im Medienbereich haben wir damit in Deutschland eine gute Erfahrung gemacht.

In welchem Fall zum Beispiel?

Etwa im Jugendschutz, da bilden Staat, private und zivilgesellschaftliche Akteure sowie Strafverfolgungsbehörden ein funktionierendes Quartett, um Formen gemeinsamer Regelsetzung, Regeldurchsetzung und Sanktionierung bei Regelverstößen durchzusetzen. Die Unternehmen arbeiten mit Einrichtungen der Selbstkontrolle wie FSK, USK oder FSM zusammen. So können Nutzer verbotene oder rechtswidrige Inhalte beispielsweise der Internet-Beschwerdestelle von eco und FSM melden. Damit entscheidet nicht das Unternehmen, was gelöscht werden muss, sondern eine unabhängige Instanz.

Nun gibt es Inhalte, die unstrittig blockiert werden müssen, Kinderpornographie oder den Holocaust leugnen zum Beispiel. Können Sie andere Kriterien geben, wo Grenzen gezogen werden sollten – das ist ja auch in der analogen Welt schwierig, wenn es um Demonstrationen geht etwa?

Natürlich gibt es Fälle, die juristisch ganz klar sind, wie die von Ihnen genannten. Deswegen muss nach NetzDG die Plattform in den ganz krassen Fällen innerhalb von 24 Stunden entscheiden und diesen Content vom Netz nehmen, da zählt einfach jede Stunde. In nicht so klaren Fällen haben sie erstens mehr Zeit und können sich zweitens enthaften, indem sie mit einer Einrichtung der freiwilligen Selbstkontrolle zusammenarbeiten. Das hatten wir als Union damals beim ersten Entwurf von Heiko Maas noch hinein verhandelt. Wir würden das gerne verbindlich machen – und hätten es auch gerne im DSA berücksichtigt.

Wie halten Sie es denn mit dem Plattform-Privileg, also der grundsätzlichen konzeptionellen Entscheidung aus den neunziger Jahren, dass Plattform-Betreiber nicht automatisch für alles haften, was Dritte dort hochladen – was das Internet erst möglich gemacht hat, wie wir es heute kennen? Darüber streiten sie in Amerika, aber auch in Europa.

Wir sind der Auffassung, dass bestimmte Errungenschaften, die in der E-Commerce-Richtlinie stehen, erhalten werden sollten, wichtige Grundsätze, die auch in die Zukunft getragen werden sollten, dazu zählt auch das Plattform-Privileg.

Aber?

Ohne Frage geht mit mehr Macht auch mehr Verantwortung einher. Deshalb sind die EU-Rechtsakte ja auch so angelegt, gerade beim DMA, dass ab einer quantitativen Schwelle sowohl Gebote als auch Verbote gelten, aber auch auf dem Weg dorthin schon Pflichten festgelegt werden. Das scheint mir ein vernünftiges Vorgehen. Nochmal zum NetzDG: Da haben wir auch gesagt, dass die Plattformen zunächst neutral sind, aber auf dem Weg zu mehr Macht zunehmend verantwortlich sind für das, was dort geschieht. Darum müssen sie Verfahren vorweisen, die sicherstellen, dass dieser Verantwortung Rechnung getragen wird. Ich denke, dass dies gelingen kann mit den Instrumenten, die wir in Deutschland schon austesten.

Mehr Marktmacht führt zu mehr Auflagen, ist ein Element der neuen EU-Vorschläge. Dazu stellt sich die Kommission eine neue Aufsichtsstruktur vor – auch mit der Folge, dass über die großen Plattformen mehr in Brüssel entschieden werden soll und die einzelnen Mitgliedsländer etwas Macht angeben. Ist das für Deutschland ein Problem?

Das bringt natürlich die Harmonisierung mit sich.

Das Bundeskartellamt wird aber nicht überflüssig dabei.

Sicherlich ist zu erwarten, dass die nationalen Behörden klug eingebunden werden und ihr Wissen genutzt wird. Aufgrund der Rechtswegverkürzung in der GWB-Novelle werden wir dem Bundeskartellamt ohnehin nochmal eine wichtige Funktion geben. Es wäre ein verschenktes Potential, auf die Erfahrungen aus den Nationalstaaten nicht zurück zu greifen. Das ist sicher nochmal eine Diskussionsschleife wert.

Neue Regeln für das Netz sind eine Sache. Dadurch entstehen aber nicht automatisch vielerorts erhoffte europäische Internetunternehmen von ähnlichem Format wie Facebook oder Amazon, die Cloud-Dienste oder soziale Netzwerke betreiben.

Das ist ein wichtiger Punkt. Einhegende Regulierung, wie wir sie vorhaben, führt eben nicht automatisch zu eigenen Wettbewerbern, die mithalten können. Aber die brauchen wir unbedingt: eigene Player, die auf Augenhöhe mitspielen können.