Wie wirken die Pandemie und der Lockdown auf die mentale Gesundheit? Paul Plener leitet die Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Wiener Universitätsklinik. Er berät das österreichische Gesundheitsministerium  zu den psychosozialen Folgen der Krise.

DIE ZEIT: Herr Plener, Sie haben im Februar gemeinsam mit der Donau-Uni Krems eine Studie zu den psychischen Auswirkungen der Corona-Pandemie bei Schülerinnen und Schülern über 14 Jahren durchgeführt. Mehr als die Hälfte von ihnen leidet laut Ihren Ergebnissen an einer depressiven Symptomatik, etwa die Hälfte an Angststörungen, und 16 Prozent haben regelmäßig suizidale Gedanken. Ging es Jugendlichen in Österreich psychisch jemals schlechter?

Paul Plener: So hohe Werte haben wir in Studien tatsächlich noch nie gesehen. Die Donau-Uni Krems hat zuvor bereits vier Befragungswellen unter Erwachsenen durchgeführt. In dieser Gruppe sind die psychischen Belastungen in der Krise angestiegen, aber nicht so stark wie bei den Jugendlichen. Die Ergebnisse sind alarmierend – aber überrascht haben sie uns nicht. Internationale Studien haben ein ähnliches Bild gezeichnet. In den Kinder- und Jugendpsychiatrien hat sich bereits Anfang des Jahres gezeigt, dass die schweren psychiatrischen Symptome angestiegen sind. Im Jänner waren wir im AKH Wien, aber auch in vielen anderen Kliniken deutlich überbelegt.

ZEIT: Mussten Sie Jugendliche wegschicken?

Plener: Ja. Es kam zu einer Art Triage – nicht nur bei uns im AKH, sondern auch in den anderen Kinder- und Jugendpsychiatrien in Österreich. In unserem Fach gibt es generell wenige Plätze, wir sind auch zu Normalzeiten gut ausgelastet. Im Jänner war der Ansturm an Patienten dann so groß, dass wir überlegen mussten, wer stationär behandelt werden kann und wer nicht. Wir haben natürlich jeden versorgt, der versorgt werden musste, aber viele Jugendliche mussten sehr lange warten – oder warten immer noch auf einen Platz.

ZEIT: Warum trifft die Krise Jugendliche so stark?

Plener: Die Gründe sind vielfältig. Aber wenn wir uns zum Beispiel anschauen, wie Depressionen entstehen, dann sehen wir, dass es dabei zu einem Rückzug kommt. Wenn sich Menschen zurückziehen, erleben sie aber auch weniger positive Momente im Alltag. Das führt zu einer Abwärtsspirale. In Österreich waren durch den Lockdown die Schülerinnen und Schüler der Oberstufen von Oktober bis Anfang Februar nicht mehr in der Schule. Auch hier sind viele Dinge, die den Alltag angenehm machen, weggebrochen: die sozialen Kontakte, die sportliche Betätigung oder Erfolgserlebnisse in der Schule. Wir haben auch gesehen, dass viele Jugendliche an Schlafstörungen leiden. Der Tag-Nacht-Rhythmus ist wesentlich für die psychische Gesundheit. Bei vielen Schülern ist das aus dem Takt geraten.

ZEIT: In der Krise haben viele junge Menschen ihren Job verloren. Was macht das mit der Psyche?

Plener: Wir wissen, dass Arbeitslosigkeit – und längerfristig natürlich auch Armut – Risikofaktoren für die Entwicklung von psychischen Erkrankungen darstellen. Darum macht uns das Sorgen. Arbeitslosigkeit kann dazu führen, dass Menschen beginnen, vermehrt Substanzen wie Alkohol zu missbrauchen. Wir haben momentan sehr genau die Suizidstatistik im Auge. Derzeit zeigt sie keinen Ausschlag nach oben, aber wir beobachten das genau, weil wir nicht wissen, was passiert, wenn dann wirklich deutliche Rezessionsfolgen spürbar werden.

ZEIT: Ihre Studie zeigt, dass Essstörungen in der Pandemie zugenommen haben.

Plener: Wir sehen das in den Kliniken: Zu uns kommen jetzt mehr Jugendliche, die stark unterernährt sind. Unsere Patienten berichten, dass sie schon im ersten Lockdown die Sorge hatten, an Gewicht zuzunehmen. Darum haben sie ihr Essverhalten geändert und auf exzessive Sportausübung gesetzt. Viele haben erzählt, dass das Thema in den sozialen Medien von Influencern aufgegriffen wurde und sie danach begonnen haben abzunehmen. Oft gerät man in einen Teufelskreis, weil man sich immer neue Ziele setzt und immer weniger wiegen will. Ein anderer Faktor, der da mitspielen kann: In Krisenzeiten lässt sich nur wenig selbst kontrollieren. Durch den Gewichtsverlust kann zumindest Kontrolle über den eigenen Körper hergestellt werden.

ZEIT: Gibt es unter Jugendlichen Gruppen, die stärker als andere betroffen sind?

Plener: Wir wissen, dass Menschen, die einer marginalisierten Gruppe in der Gesellschaft angehören, öfter an psychischen Erkrankungen leiden. Sowohl Depressionen, als auch suizidale Gedanken und Essstörungen treten ab der Pubertät häufiger auf – und da häufiger bei Frauen. Wir wissen ebenfalls, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund und solche mit genderdiversen Identitäten, also zum Beispiel Transpersonen, stärker gefährdet sind, sich selbst zu verletzen oder an Angststörungen zu leiden. In der Pandemie sind die psychischen Belastungen allgemein angestiegen – aber am stärksten in diesen Risikogruppen.

ZEIT: Sie sitzen seit Ende Februar im Beraterstab des Gesundheitsministeriums, der sich mit den psychosozialen Folgen der Krise beschäftigen soll. Woran arbeiten Sie gerade?

Plener: Wir beschäftigen uns derzeit mit der Frage, welche Maßnahmen notwendig sind, wenn die akute Phase der Pandemiebekämpfung vorbei ist. Es geht einerseits um niederschwellige Angebote und präventive Maßnahmen und andererseits darum, das gesamte Versorgungssystem im psychosozialen Bereich zu stärken.

ZEIT: Gibt es da schon konkrete Beispiele?

Plener: Wir haben erst vor einer Woche mit der Arbeit begonnen und sind noch mitten in der Ausarbeitung.

ZEIT: Reagiert die Regierung zu spät?

Plener: Auf Länderebene wurde das seit Beginn der Pandemie mitgedacht. Die Stadt Wien hat seit März 2020 einen psychosozialen Beraterstab, dem ich angehöre. Es stimmt also nicht, dass nichts gemacht wurde. Es ist gut und wichtig, dass das jetzt auf Bundesebene angegangen wird. Aber es ist klar, dass im Verlauf einer Pandemie zuerst die Identifikation des Virus im Vordergrund steht, dann die eindämmenden Maßnahmen und dass man sich dann, in einem dritten Schritt, mit den längerfristigen Folgen der Pandemie beschäftigt.