Historischer Exodus in den Zwanzigern:Als München zur "dummen Stadt" verkommt

Lesezeit: 7 min

Während der Weimarer Republik wird die Stadt zu einem Hort für Monarchisten und Rechtsextreme. Andersdenkende werden terrorisiert, Schriftsteller und Intellektuelle flüchten.

Von Wolfgang Görl

Es ist eine bitterböse Abrechnung, die der Kunstkritiker Hermann Esswein 1921 in der Zeitschrift Der Zwiebelfisch unter dem Titel "Münchens Ende als Kunststadt" publiziert: München bezeichnet er als "Krähwinkel", dessen gemütlichkeitsbesoffene Bewohner rückständig bis zum Kragen und doch so duldsam sind, dass sie - Achtung: Ironie! - Schusswaffen nur gegen "vermutliche Feinde oberbayerischer Kernigkeit" richten und Juden nur ausnahmsweise verprügeln. Dabei war dieses Krähwinkel in der Vergangenheit mal "so etwas wie eine Kunststadt" gewesen.

Nun aber ist der Glanz verblasst, und es sieht zappenduster aus: "Dass dieser Glanz nur Firnis war, der dem Adel wenig, dem Bürgertum aber gar nichts anhaben konnte, erwies sich schon unter der Regierung des Prinzregenten Luitpold, mehr noch unter Ludwig III.; die Bürokratie Kahr aber kratzte die letzten Spuren dieser dünnen Schicht entschlossen ab, und das Ur-Bajuwarentum kam wieder zum Vorschein. Nun grollen und stöhnen also die armen Münchner unter dem Joche republikanischer Freiheit, mir der sie so gar nichts anzufangen wissen, und werden den Argwohn nicht los, dass zwischen der Kunst und der verfluchten Freiheit irgendein teuflischer Zusammenhang besteht."

Esswein ist nicht der Erste, der den kulturellen Abstieg Münchens beschwört. Bereits 1901 lösten zwei Zeitungsartikel des Berliner Kunstkritikers Hans Rosenhagen über "Münchens Niedergang als Kunststadt" heftigen Ärger aus, aber damals retteten sich die Münchner mit dem bewährten Argument, die Preußen seien doch nur neidisch.

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Nach dem Weltkrieg, nach der blutig niedergeschlagenen Revolution und dem Aufstieg antidemokratischer, völkischer und antisemitischer Kräfte in Bayern, helfen die folkloristischen Preußenbeschimpfungen nicht mehr. Es gibt Tatsachen, über die man sich nicht hinwegschwindeln kann. Eine davon ist: Immer mehr Künstler verlassen München, und meist zieht es sie nach Berlin, wo die Atmosphäre freier ist als in der mittlerweile dumpf reaktionären bayerischen Hauptstadt. Und viele von denjenigen, die ausharren, sind besorgt.

Das Unbehagen kommt auch am 30. November 1926 zum Ausdruck, als die linksliberale Deutsche Demokratische Partei ein Gesprächsforum zum Thema "Kampf um München als Kulturzentrum" veranstaltet. Auch Thomas Mann spricht dort, ebenso wie andere maßgebliche Intellektuelle, darunter sein Bruder Heinrich.

Der zum Verteidiger der Weimarer Republik gereifte Thomas Mann sagt: "Erinnern wir uns, wie es in München war vorzeiten, an seine Atmosphäre, die sich von der Berlins so charakteristisch unterschied! Es war eine Atmosphäre der Menschlichkeit, des duldsamen Individualismus, der Maskenfreiheit sozusagen; eine Atmosphäre von heiterer Sinnlichkeit, von Künstlertum: eine Stimmung von Lebensfreundlichkeit (...) Der unsterbliche, mehr oder weniger humoristisch gepflegte Gegensatz zum Norden, zu Berlin, hatte ganz anderen Sinn als heute. Hier war man künstlerisch und dort politisch-wirtschaftlich. Hier war man demokratisch und dort feudal-militaristisch. Hier genoss man einer heiteren Humanität, während die harte Luft der Weltstadt im Norden einer gewissen Menschenfeindlichkeit nicht entbehrte."

"Früher hatte die schöne, behagliche Stadt die besten Köpfe des Reiches angezogen. Wie kam es, dass die jetzt fort waren?"

Aber das war einmal, konstatiert Thomas Mann. Inzwischen haben sich die Dinge grundlegend gewandelt. "Wir mussten es erleben, dass München in Deutschland und darüber hinaus als Hort der Reaktion, als Sitz aller Verstocktheit und Widerspenstigkeit gegen den Willen der Zeit verschrien war, mussten hören, dass man es eine dumme, die eigentlich dumme Stadt nannte." Wie konnte es so weit kommen?

Nationalisten, Judenhasser, Demokratiefeinde, Obskuranten und Irrationalisten gab es auch schon in der Münchner Belle Époque vor dem Ersten Weltkrieg; aber erst nach dem Untergang der Räterepublik im Frühjahr 1919 bestimmen Rechte und Rechtsextremisten die Atmosphäre der Stadt.

Tonangebend sind Männer wie Gustav von Kahr, der nach dem Scheitern des reaktionären Berliner Kapp-Putsches als Nachfolger des zurückgetretenen bayerischen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann (SPD) an die Macht gekommen war. Der Monarchist Kahr träumt davon, München zum Ausgangspunkt für die Renaissance der Monarchie zu machen. Seine Leitidee ist die "Ordnungszelle Bayern", die als Bollwerk gegen die Weimarer Republik und vor allem Berlin dienen soll, das er als Hochburg babylonischer Völkervermischung und zersetzender Avantgardekultur betrachtet.

"Der weiße Terror und die sich anschließende reaktionäre, klerikale und partikularistisch-nationalistische Gegenbewegung würgten unter dem Deckmantel von Ruhe und Ordnung alle fortschrittlichen Kräfte ab und schufen ein Klima der Intoleranz und Bespitzelung", schreibt Winfried Nerdinger im Katalog zur Ausstellung "Die Zwanziger Jahre in München", die 1979 im Stadtmuseum gezeigt wurde.

Dieses Klima wirkt wie ein Magnet auf rechtsextreme Republikfeinde aller Art. In Scharen siedeln sie sich in der bayerischen Hauptstadt an, wo sie Andersdenkende terrorisieren und die Saalschlacht zu einer normalen Form der politischen Auseinandersetzung machen, ohne juristische Folgen befürchten zu müssen. Polizeipräsident Pöhner legt stets seine schützende Hand über die Demokratieverächter.

In seinem Roman "Erfolg" stellt der Schriftsteller Lion Feuchtwanger fast schon resignierend die Frage: "Früher hatte die schöne, behagliche Stadt die besten Köpfe des Reiches angezogen. Wie kam es, dass die jetzt fort waren, dass an ihrer Stelle alles, was faul und schlecht war im Reich und sich anderswo nicht halten konnte, magisch angezogen nach München flüchtete?" Feuchtwanger kennt sich aus in München. Hier ist er 1884 geboren, Sohn einer jüdischen Fabrikantenfamilie. Schon als 23-Jähriger gründet er eine Kulturzeitung, er schreibt Theaterkritiken, Dramen, Erzählungen, Essays. Sein 1922 vollendeter historischer Roman "Jud Süß", dessen Protagonist der württembergische Hofjude Joseph Süß Oppenheimer ist, bringt Feuchtwanger auch internationalen Ruhm ein.

Als linksliberaler Weltbürger, als scharfsichtiger Kritiker der Völkischen sowie als Jude wird er rasch zur Hassfigur der Rechten. Wie der Historiker David Clay Large in seinem Buch "Hitlers München" berichtet, organisieren Nazis Belagerungen vor Feuchtwangers Wohnung, grölen antisemitische Parolen und werfen Steine. Als sein Stück "Der holländische Kaufmann" 1923 im Residenztheater Premiere feiert, stören Nazi-Krawalle die Vorstellung. Zwei Jahre später hat Feuchtwanger genug, mit seiner Frau Marta zieht er nach Berlin.

Das Kapitel München aber ist für ihn nicht abgeschlossen. In Berlin arbeitet er an der literarischen Abrechnung, dem Roman "Erfolg". Darin geht es um einen fiktiven Rechtsfall, der Feuchtwanger die Möglichkeit bietet, tief einzudringen in den Sumpf der bayerischen und Münchner Gesellschaft der Zwanziger. Kleingeistigkeit und Provinzialismus sind noch das Harmloseste, was diese Gesellschaft auszeichnet. Daneben grassiert der Hass auf alles Moderne und Fremde, die Korruption blüht, ebenso die Spezlwirtschaft, während die Justiz die völkische Rechte samt ihren mordenden Geheimbünden mit demselben Eifer schont, mit dem sie die Linke verfolgt. Die realen Vorbilder der Romanfiguren sind leicht zu entschlüsseln: Rupert Kutzner ist Hitler, Franz Flaucher gleicht Gustav von Kahr, und der Komiker Balthasar Hierl erinnert verdammt an Karl Valentin. Und es gibt den Ingenieur und Dichter Kaspar Pröckl, das literarische Alter Ego von Bertolt Brecht.

Der aus Augsburg stammende Brecht beginnt 1917 sein Studium der Medizin und Germanistik in München. Doch um die Universität kümmert er sich, wenn überhaupt, nur nebenher. Dichtung, Theater (und Frauen) interessieren ihn weitaus mehr, er schließt sich dem Kreis um dem Theaterwissenschaftler Artur Kutscher an, und er lernt auch Feuchtwanger kennen, der ihn fördert. In München schreibt er die fulminanten Frühwerke "Baal", "Trommeln in der Nacht" und "Im Dickicht der Städte". Im September 1922 steht die Uraufführung von "Trommeln in der Nacht" auf dem Programm der Kammerspiele, die Theaterkritiker sind begeistert. Als im folgenden Jahr "Im Dickicht der Städte" auf die Bühne des Residenztheaters kommt, sind auch SA-Leute im Publikum. Sie trampeln mit den Füßen, brüllen dazwischen, werfen Stinkbomben. Nach sechs Vorstellung wird das Stück abgesetzt, "wegen Widerstands im Publikum", wie es offiziell heißt. Auch Brecht spürt, dass er in München nicht weiterkommt. 1924 übersiedelt er nach Berlin.

Drohungen, Randale, Terror - mit diesen Methoden zerstören die Rechtsextremisten, als deren Führer sich der verkrachte Künstler Adolf Hitler etabliert, das einst liberale Kulturleben Münchens. Stark vertreten sind die Nationalisten an der Universität. 1920 muss der bedeutende Soziologe Max Weber seine Vorlesung wegen heftiger Tumulte nationalistischer Studenten abbrechen, die den Wissenschaftler attackieren, weil er sich gegen die Begnadigung des Eisner-Mörders Anton Graf von Arco-Valley ausgesprochen hatte.

Ein Jahr später sagt der Physiker Albert Einstein einen Vortrag an der Münchner Uni wegen der antisemitischen Haltung der Studentenschaft ab. Aufführungen von Wedekind-Stücken fallen der Nazi-Randale zum Opfer, Zuckmayers "Der fröhliche Weinberg" wird verboten, ein Gastspiel der Schauspielerin Tilla Durieux sabotieren Rechtsextremisten, indem sie auf Anraten der konservativen Zeitung Bayerischer Kurier im Foyer Nachttöpfe ausgießen. Und auch den Auftritt der schwarzen Tänzerin Josephine Baker untersagt die Polizei mit Hinweis auf die zu erwartenden Tumulte.

Auch weite Kreise des Bürgertums verachten die künstlerische Moderne; stattdessen ergötzt man sich an dörflicher Heimatliteratur und Naturdichtung, und nicht wenige huldigen dem völkischen Mythos von Blut und Boden. Bürgermeister Karl Scharnagl, konservativ, aber beileibe kein Nazi, lässt bei seiner Antrittsrede 1925 wissen, was er unter städtischer Kulturpolitik versteht: "Die Fortführung edler hochstehender Äußerungen des Volkslebens für alle Kreise der Bevölkerung, die Hochhaltung aller Bräuche und Gewohnheiten, die Verdrängung neumodischer, undeutscher und demoralisierender Gewohnheiten und Lebensäußerungen durch Pflege bodenständiger, wahrhaft volkstümlicher Überlieferung."

Auch Heinrich Mann fühlt sich im provinzialisierten München nicht mehr wohl. 1928 zieht er nach Berlin, wo er, der radikaldemokratische Autor, hofft, auch politisch mehr bewirken zu können. Joachim Ringelnatz, quasi der Hausdichter der Künstlerkneipe "Simplicissimus", macht sich 1930 aus dem Staub, natürlich Richtung Berlin. Dort siedeln sich auch Ernst Toller und Erich Mühsam nach dem Ende ihrer Haftstrafen an. Die beiden Protagonisten der Revolution hatten mit viel Glück die Racheorgien der Rechten nach der Niederschlagung der Räterepublik überlebt.

"München ist sicher von allen deutschen Städten die provinzlerischste"

Nur etwa fünf Jahre erträgt Marieluise Fleißer das rückwärtsgewandte Kulturleben an der Isar. Als junge Studentin war die Ingolstädterin 1920 nach München gekommen, wo sie ihr erstes Drama "Fegefeuer in Ingolstadt" schrieb. Doch die Münchner Theater haben kein Interesse an ihren Stücken. Fleißer kehrt in ihre Heimatstadt zurück, später zieht sie nach Berlin, wo die Bühnen größeres Interesse an ihren Dramen haben - wieder ein Talent weniger.

Münchens geistiges Leben erleidet immense Verluste. Einer nach dem anderen verabschiedet sich: die Dichterin Ricarda Huch, der Schriftsteller Ödön von Horvath, die Maler Paul Klee und Alexander Kanoldt, und vielleicht muss man auch Rainer Maria Rilke nennen, der es aber nirgendwo lang ausgehalten hat.

Ein paar Künstler liberalen bis sozialistischen Typs bleiben dennoch. Thomas Mann beispielsweise, Alfred Neumann - und Oskar Maria Graf, obwohl er sagt: "München ist sicher von allen deutschen Städten die provinzlerischste." Es ist ein vorläufiges Ausharren. Als die Nazis an die Macht kommen, fliehen sie ins Ausland - so wie auch viele ihrer Kollegen, die in den Zwanzigern nach Berlin gezogen waren.

Erich Mühsam aber entkommt den Nazis nicht. Er wird 1934 im KZ Oranienburg von SS-Leuten ermordet.

Hinweis der Redaktion: In einer früheren Fassung hieß es, "Antisemiten" hätten "ein Gastspiel der jüdischen Schauspielerin Tilla Durieux" sabotiert. So überliefert es zwar der US-Historiker David Clay Large in seinem Buch "Hitlers München". Die Schauspielerin indes hatte zwar jüdische Ehemänner, war selbst aber nicht Jüdin. Das wurde im Text entsprechend korrigiert.

© SZ vom 29.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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