Literatur aus Österreich:Revolution!

Hermynia Zur Mühlen - Jugendfoto mit Perlenkette und Hut

Von der österreichischen Schriftstellerin Hermynia Zur Mühlen (1883-1951) gibt es kaum Fotos. Ihr Nachlass gilt als verschwunden.

(Foto: Deutsche Nationalbibliothek, Deutsches Exilarchiv 1933-1945, Frankfurt am Main)

Bitte wiederentdecken: Die Romane, Märchen und engagierten Feuilletons der Sozialaristokratin Hermynia Zur Mühlen in einer fabelhaften Werkausgabe.

Von Marie Schmidt

Das erste Leben der geborenen Gräfin und gnädigen Frau von zur Mühlen endet 1917 mit einem Jubelschrei: "Revolution in Rußland! Frauen sind kindisch; ich zog meinen Trauring vom Finger und kaufte mir einen neuen glatten Goldreif, einen Trauring mit der russischen Revolution." Aus der Frau, die an der Seite des Vaters, eines Diplomaten der k.u.k.-Aristokratie, luxuriös durch die Welt gereist war, und die einen baltischen Großgrundbesitzer geheiratet hatte, wird damit eine selbständige proletarische Bohemienne, Fußgängerin, engagierte Schriftstellerin, Feuilletonistin und Übersetzerin: "Hinter mir lag eine sterbende Welt der Privilegien, vor mir die neue, lebensvolle, die erst im Entstehen begriffen ist."

Das klingt romantisch, nach einem Befreiungsschlag zum modernen Frauenleben. In Hermynia Zur Mühlens Zeit war es aber eher mit Härten verbunden, mit Wanzen im Bett, Lungenleiden, staatlicher Zensur, Geldsorgen. Überhaupt ist heute, ein Jahrhundert danach, manches an dieser Übertretung der Klassenschranken nicht mehr einfach zu verstehen: Woher die Überzeugung der jungen Intellektuellen kam, mit nicht unsentimentalen "Propagandaerzählungen" für Kinder und Erwachsene ihre Leser zum richtigen Gefühl für soziale Gerechtigkeit erziehen zu müssen. Wie sie so fröhlich Abschied nehmen konnte vom mondänen Leben, um in ihren autobiografischen Erzählungen dann doch melancholisch zurück zu schauen auf den lässig liberalen Geist der österreichisch-ungarischen Aristokratie, ohne die ihr schöner Freiheitswillen nicht möglich gewesen wäre. Andererseits war sie ihrer Zeit vielleicht einfach einen Schritt voraus: Als die Klassengesellschaft der Kaiserzeit mit den Weltkriegen unwiederbringlich in sich zusammenstürzte, lebte Zur Mühlen schon zwischen den Schichten und den Epochen und konnte die Umbrüche genau beobachten.

1951 ist sie in England gestorben, wohin sie sich mit ihrem zweiten Mann, dem jüdischen Übersetzer Stefan Klein in der Nazizeit rettete. Wie viele exilierte Autoren hat man sie nach dem "Dritten Reich" nicht zurück gebeten, um nicht zu sagen bereitwillig vergessen. Ihr Nachlass ging nach Stefan Kleins Tod verloren. Ideologisch schien diese Autorin auch unzuverlässig. Mit "proletarischen-revolutionären Positionen" hieß es noch 2002 in der FAZ, habe sie sich "auf einen Fundamentalismus versteift, den sie nachher im englischen Exil nur gegen einen anderen, den Katholizismus, wieder eintauschen konnte".

Diese Autorin müsste mehr gelesen werden, wenn die Welt bei Sinnen wäre

Nichts könnte einen falscheren Eindruck von dieser Intellektuellen geben, verbohrt kann man sie wirklich nicht nennen. Glücklicherweise wird das jetzt korrigiert durch eine Neuausgabe ausgewählter Texte, die der Literaturwissenschaftler und Journalist Ulrich Weinzierl besorgt hat. Ganz verschwunden war Hermynia Zur Mühlen zwar nicht. In manchen Aufzählungen vergessener Exilschriftstellerinnen steht sie verzeichnet, in den siebziger und achtziger Jahren hat man ihre Romane und Kinderbücher zum Teil wieder aufgelegt, hat hier und da über sie geforscht. Aber diese Autorin müsste berühmter sein und mehr gelesen werden, wenn die Welt bei Sinnen wäre, weil sie eine hinreißende Unterhaltungsschriftstellerin war, weil es ein Vergnügen ist mit ihr, ob sie gerade politisch antreibt, oder vornehm spöttelt.

Weinzierls vierbändige Zusammenstellung ihrer Romanen, Erzählungen, engagierten Märchen und Feuilletons ist Teil einer Reihe der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot-Stiftung, die sich um die Werke bisher zu wenig bekannter Autorinnen des 20. Jahrhunderts bemüht. Annette Kolb und Irmgard Keun sind da erschienen, eine Ausgabe der widerständigen Schriftstellerin ebenfalls adliger Herkunft Mechtilde Lichnowsky ist in Vorbereitung. Hermynia Zur Mühlens "Werke" macht die Ausgabe mit einem angenehm zurückhaltenden Kommentar zugänglich. Die Auswahl zeigt sehr bedacht literarische Qualität und politischen Eifer dieser Autorin. Womit eine Erfahrung gesichert ist, die die Schriftstellerin Felicitas Hoppe in ihrem Vorwort beschreibt: "Ihre lässige Handhabung und Instrumentalisierung aller zu Gebote stehenden literarischen Mittel ist mir fremd und suspekt, so daß ich mich beim Lesen gelegentlich schäme; wobei mich weniger ihre Texte beschämen als mein eigenes bequemes Zuhausesein in einer prekären Welt, ... dem der Gedanke an Agitation aus gutem Grund äußerst fremd ist."

Die Frontverläufe der Klassenkämpfe, in die sich Zur Mühlen schreibend warf, geben einem tatsächlich noch in der heute angeblich klassenlosen Gesellschaft zu denken. Ihr Widerwille gegen Standesdünkel ließ sie glauben, dem Proletariat müsse eine solidarische Menschheit entspringen. Dieser Idee ordnete sie sich unter als "winziger Teil eines großen Ganzen, dem ich, wenn auch in allerbescheidenstem Maßstab, dienen durfte". Später hat sie das korrigiert: "Jetzt glaube ich ja nur mehr an den einzelnen Menschen."

Von ihrer Herkunft behielt sie eines zurück: "Die Geringschätzung der Bürgerlichen saß selbst in den Vorurteilslosesten unserer Kaste dermaßen fest, daß sie nicht auszutreiben war", schreibt sie in ihrer Autobiografie "Ende und Anfang" (1929). Ihr Vater, erzählt sie weiter, "pflegte von Bekannten aus der Großindustrie immer mit dem Präfix ,der arme' zu sprechen". Man kultivierte im österreichischen Hochadel "eine gewisse Weltfremdheit, eine Hilflosigkeit in praktischen Dingen, die sich hinter dem Mantel der Verachtung alles ,Geschäftlichen' verbarg". Im Umgang mit anderen bedeutete das, "daß man mit Bürgerlichen liebenswürdig, mit den ,armen Leuten', dem Volk, aber noch viel liebenswürdiger sein mußte, und zwar auf eine viel selbstverständlichere Art, weit mehr, als ob man es mit seinesgleichen zu tun hätte".

Der soziale Antipode scheint für Hermynia Zur Mühlen derselbe geblieben zu sein

Auch nachdem sich Zur Mühlen vom Kommunismus distanziert hatte, traten in ihren Romanen die Bürgerlichen als berechnende Typen auf, die nach oben schmeicheln und nach unten treten. Statt Haltung zu zeigen taktieren sie auf opportune gesellschaftliche Stellungen hin. Und in der Nazizeit sind es in Zur Mühlens Gesellschaftsbild die bürgerlichen Ehrgeizlinge, die ihre Stunde gekommen sehen, und sich für die Kränkungen, die ihnen die Aristokratie zugefügt hat, bitter rächen.

Ab 1919 hatte sie mit ihrem zweiten Mann als Publizistin und Übersetzerin unter anderem der sozialkritischen Romane von Upton Sinclair in Frankfurt am Main gelebt. 1933 flüchtete das Ehepaar zunächst nach Wien. Wo ihr, wie Stefan Klein berichtete, ein Feuilletonredakteur sagte, er wolle von ihr keine "Greuelgeschichten, sondern Humoresken bei denen den Lesern der Bauch wackelt". Vor Wut habe sie darauf hin binnen drei Wochen ihren Roman "Unsere Töchter, die Nazinen" geschrieben, der 1935 erschien und bald verboten wurde. Der schematisch aufgebaute Roman ist, wie die meisten Erzählungen von Hermynia Zur Mühlen, aus der Perspektive von Frauen erzählt, einer Gräfin und ihres Dienstmädchens, die ein Schicksal teilen: Ihre Töchter schließen sich der NSDAP an. Die aristokratische und die arme Frau riskieren den Bruch mit den geliebten Kindern, so tief ist ihr Widerwille gegen den Ungeist. Die dritte Erzählerin ist die Gattin eines erfolglosen Arztes, die mit dem Aufkommen der neuen Herren plötzlich wie von allen Minderwertigkeitskomplexen befreit wirkt, und ihre Familie am Vermögen deportierter Juden bereichert.

Der soziale Antipode scheint für Hermynia Zur Mühlen nach ihrem Wandel von der Adligen zur proletarisierten Künstlerin derselbe geblieben zu sein. Wer weiß, ob Karl Kraus das im Sinn hatte, als er über "die tapfere Hermynia Zur Mühlen" schrieb, "die ihren Adel verloren, aber nicht eingebüßt und auch nichts von ihm an die Gesellschaft abgegeben hat, die sie zeitgenössisch umgibt". Beim Wiederlesen von Hermynia Zur Mühlen heute, muss einem bitter bewusst werden, dass unsere Gesellschaft heute klassenlos ja vor allem insofern ist, als sie sich total verbürgerlicht hat - nur die Lebensformen haben sich vergleichsweise proletarisiert. Der Kapitalismus jedenfalls belohnt genau das taktierend-wendige Verhalten, das Zur Mühlen verachtete. "Tod dem Bourgeois!" forderte sie 1919 in der Zeitschrift "Die Erde". Ausgestorben ist stattdessen leider der aristokratische Geist, den man in ihren Büchern wiederfindet.

Hermynia Zur Mühlen: Werke. Im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot Stiftung, herausgegeben von Ulrich Weinzierl, mit einem Essay von Felicitas Hoppe. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2019. 4 Bände, 2581 Seiten. 49,00 Euro.

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