Ich bin Linus – Linus Giese

Nachdem das Buch fast drei Jahre lang in meinem Bücherregal verbracht hat, bin ich nun endlich zu Lesen davon gekommen. Ähnlich wie zum Beispiel mit der Thematik um das Thema Rassismus herum, vertiefe ich gerne mein Wissen darin, indem ich Bücher darüber lese. “Ich bin Linus” ist eine wahnsinnig offene, ehrliche und verletzliche Erzählung darüber, wie es ist, als trans Mann, der die Entscheidung gefasst hat, öffentlich zu seiner Transition zu stehen, in Deutschland zu leben.

Viele der beschriebenen Momente haben mich zum Nachdenken gebracht, haben mich Dinge überdenken lassen, die ich früher als selbstverständlich hingenommen habe. Für mich persönlich hat das Buch eine neue Dankbarkeit geweckt, dass ich mich selbst in Einklang mit dem Geschlecht fühle, als welches mich die Öffentlichkeit wahrnimmt und wie ich mich selber fühle. Ich habe mir viele Stellen beim Lesen markiert, zum Beispiel wie es mit dem Outing ist, durch welches trans Menschen oft fast täglich immer und immer wieder durch müssen, wie notwendig Veränderungen in unserer Sprache sind, warum man von einer Transition und nicht einer Geschlechtsumwandlung sprechen sollte, warum man trans Mann und nicht Transmann oder Trans-Mann schreiben sollte, wie viel Aufwand eine Transition beansprucht (finanziell und emotional) und wie man am besten einer Person die Frage stellen sollte, wie man sie ansprechen kann, wenn man sie nicht verletzen möchte.

Ich würde mir wünschen, dass Kinder irgendwann nicht mehr vor mir stehen und “Bist du ein Mann oder eine Frau?” fragen, sondern stattdessen fragen: “Hallo, welches Pronomen nutzt du denn?

S. 183

Eine kleiner Teil, der auch erwähnt werden muss, und welchen ich auch in anderen Bewertungen rausgelesen habe, sind die Wiederholungen und Ungereimtheiten, die in der Geschichte immer wieder vorkommen. Man hat das Gefühl, dass das Manuskript ein bisschen tiefer korrekturgelesen gehört hätte, um ein flüssigeres Lese-Erlebnis zu ermöglichen. Manche Teile sind nicht chronologisch aneinander gereiht und es wird zum Beispiel die erste Lebenserfahrung in einer WG erwähnt, wonach bei der zweiten erklärt wird, dass sie zum ersten Mal passieren würde:

Tine und Daniel erzählten mir später, dass sie sich damals viele Gedanken um mich gemacht haben. […] Ich lebte sehr zurückgezogen, verbrachte viele Stunden damit, auf meinem Bett zu liegen und an die Decke zu starren.

S. 19

-> Erzählung über die erste WG-Erfahrung

Ich war damals immer noch zurückhaltend und lebte zum ersten Mal in einer Wohngemeinschaft, daran musste ich mich erst einmal gewöhnen.

S. 66

-> Erzählung über eigentlich die zweite WG-Erfahrung

Dennoch würde ich der Bewertung dafür nur einen Stern abziehen, weil der Rest des Buches so wichtig, notwendig und für alle lesenswert ist! Die Teile, die mich am meisten schockiert haben, waren jene, wo man erfahren hat, dass man als trans Mensch sich nicht mal im Umfeld von Ärzten sicher fühlen kann. Auch die Sprache, die überall in Krankenhäusern und bei Ärzten präsent ist, ist mir früher so nie aufgefallen. Beim Lesen waren das Realisierungen, die einen komplett den Glauben an das System verlieren lassen. Ich finde es deshalb besonders wichtig, seinen Horizont bewusst zu erweitern, vor allem wenn man zum Beispiel keine trans Menschen in seiner Umgebung hat, um besser zu verstehen, wie komplex es sein kann, in unserer derzeitigen Gesellschaft zu existieren.

Eine Arztpraxis sollte eigentlich ein sicherer Ort sein, doch für viele trans Menschen ist er das nicht. Dafür gibt es dort zu viel Unwissenheit, zu viele Vorurteile, zu wenig Interesse und viel zu wenig Sensibilität. [..] Ich glaube, für mich sind diese Untersuchungen besonders schlimm, weil ich in diesen Momenten nicht gesehen und nicht wahrgenommen werde. Weil meine Grenzen nicht respektiert werden.

S. 64

Es ist komisch für mich, unter einem Schild durchzulaufen, auf dem “Frauenklinik” steht – oder an einem Schild vorbeizugehen, auf dem “Frauen hier entlang” steht. Die gynäkologische Ambulanz ist ein Ort, der noch nicht darauf eingestellt ist, dass dort auch Menschen hingehen könnten, die keine Frauen sind.

S. 155

Auch wenn Linus erwähnt, wie schwer es ist, mit seiner Verletzlichkeit umzugehen, fand ich, dass es ihm in diesem Buch sehr gut gelungen ist. Ich fand so viele Stellen wahnsinnig eindrucksvoll, dazu zu stehen, was er machte, um sich Bestätigung einzuholen, wie emotional Teile geschrieben waren, wie offen und ehrlich gewisse Dinge geschildert wurden und ich finde es wahnsinnig mutig, sich zu trauen, seine privaten Gefühle und Gedanken so mit der Öffentlichkeit zu teilen. Die Art wie er unter anderem über Wut, Scham, Angst und Empörung geschrieben hat, hat einen wirklich in seine Geschichte einfühlen lassen.

Ich habe nicht vorausgeahnt, wie anstrengend es sein würde, über mich selbst zu schreiben, und wie schwer es ist, mit der eigenen Verletzlichkeit umzugehen.

S. 212

Meiner Meinung nach war “Ich bin Linus” ein absoluter Must-Read! Ich war sowohl beeindruckt, als auch inspiriert davon. Es hat mir die Augen auf viele neue Themen geöffnet und hat mich motiviert, selber Änderungen vorzunehmen, zum Beispiel in meinem eigenen Umgang mit der Sprache. Um tiefer in die Thematik einzutauchen, werde ich als nächstes “Die Zukunft ist nicht binär” lesen und freue mich darauf, dadurch noch mehr relevantes Wissen mitzunehmen.

Ich bin Linus – Linus Giese

★★★★☆ (4/5)

Ausgabe: ISBN 978-3-499-00312-7
Rowohlt Verlag, 2020

Leave a comment